Gute Vorsätze:

„Wie wir uns gegenüber Kindern verhalten, so der Weise gegenüber allen, die auch nach der Jugend und nach dem Ergrauen
der Haare ihre Kindlichkeit behalten haben. Oder sind diejenigen etwas vorangekommen, denen seelische Schwächen geblieben
sind und weiter angewachsen sind die Irrtümer? Die von Kindern durch die Größe nur und Gestalt ihrer Körper
sich unterscheiden, sonst aber nicht weniger unbeständig und haltlos, nach Genüssen ohne Wahl verlangend?
Die Kinder haben Gier auf Würfel, Nüsse und Kleingeld, die Erwachsenen auf Gold, Silber und Städte. Während
die Kinder unter sich Beamte spielen und Amtstracht, Rutenbündel und Gerichtsstätte nachahmen, betreiben die Erwachsenen
dasselbe Spiel auf Marsfeld, Forum und in der Kurie im Ernst. Die Kinder errichten am Strand durch Anhäufen von Sand Abbilder
von Häusern und die Erwachsenen sind beschäftigt, Steine zu bewegen und Mauern und Dächer zu erbauen. Also: Knaben
und Erwachsene leiden an demselben Irrtum.
Wegen Irrtümern sollte man aber nicht wütend werden. Wie wär's wenn jemand in Zorn geriete über Leute,
die im Dunkeln unsicher gehen, wie, wenn er über Taube zürnte, weil sie Befehle nicht hören, wie, wenn man es
Kindern verargte, dass sie nicht an alle ihre Pflichten denken, sondern nach Spielen und den albernen Späßen
Gleichaltriger verlangten?
Gelassen bleibt daher der Weise und wohlwollend dem Irrtum gegenüber, kein Feind, sondern ein Mahner der Sünder, und
täglich geht er mit dieser Einstellung aus dem Haus: „Viele werden mir begegnen, die dem Wein verfallen sind, viele
Unzüchtige, viele Undankbare, viele Habgierige, viele vom Wahnsinn des Ehrgeizes Getriebene.” Auf all das wird er so
gütig schauen wie auf seine Kranken der Arzt."

- Seneca